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„leck mir die Wunden“ featuring Körber Studio Junge Regie

Koerber Studio Junge Regie 2019; Studiobühne
Foto: Krafft Angerer

Ilja (*1995), Student aus Hamburg, sitzt in der ersten Reihe rechts und schaut sich schon das zweite Stück an dem heutigen Donnerstag im Körber Studio an. Davor war er in der Schanze beim Friseur und davor hat er sein Auto repariert – an sich ein entspannter Tag. Es gab Sonne in Hamburg. Von dem Stück weiß ich nur, dass es von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ist und dass scheinbar irgendein Hint auf einen Professor der HFMT vorkommen soll.

leck mir die wunden ist ein antibürgerliches Trauerspiel zwischen Küchentisch und Barrikade, ein Aufruf zum Gang in den Untergrund, der Untergang des Abendprogramms, eine radikale Selbstbefragung. Es nimmt sich den glühenden Anarchisten und Superegozentriker R. W. Fassbinder zum Vorbild und überschreibt seinen Film „Deutschland im Herbst“ mit den Zeichen unserer Zeit: Turbokapitalismus, Eskapismus, Faschismus.
Das schreibt die Regisseurin Meera Theunert auf ihrer Webseite über ihr Stück „leck mir die wunden“, das als Einreichung der Hochschule für Musik und Theater Hamburg auf dem Körber Studio am Donnerstag um 21:00 Uhr zu sehen ist.
Es ist relativ dunkel als ich mit einer großen Masse an Menschen den Theatersaal in der Gaußstraße betrete. Auf der Bühne sehe ich einen Körper, der Rücken – dem Publikum zugewandt und nur mit einem knappen weißen Handtuch um die Hüfte bedeckt. Am Bühnenrand geht ein zweiter männlicher Schauspieler auf und ab, in der Hand schwingt er gekonnt einen langen Stock, im Hintergrund läuft eine nur schwer verständliche Tonaufnahme. Ich drehe mich um, der Saal ist voll; ausverkauft.
„Armin! Armin!“ Die Tonaufnahme endet, das Schauspiel beginnt. Die nächsten 10 Minuten passiert vor uns in einer Reenactment von Deutschland im Herbst, einem Episodenfilm von Rainer Werner Fassbinder der sich mit der Gesellschaft zur Zeit des RAF-Terrorismus nach dem Deutschen Herbst 1977 auseinandersetzt. Spätestens jetzt beantwortet sich für alle die, die es davor noch nicht wussten, die Frage, wessen ausgeschnittenes Gesicht da auf der Bühne über der gemalten Couchkulisse hängt. Ein Stuhl, dahinter eine gemalte Couch, alles ein bisschen perspektivisch verzogen. Der Tisch, die Tür, die Rückwand des Zimmers, das hinten auf der Bühne aufgebaut ist –alles „nur“ Kulisse die in sich ein sehr stimmiges Bühnenbild kreiert. Verantwortlich hierfür ist Laura Robert.

„Wo ist denn das Telefon?“ – eine Phrase, die das Reenactment unterbricht. In der nächsten kurzweiligen Aufführung eine Phrase, die noch öfter erklingen wird, um Szenenwechsel einzuleiten.
Schon während die beiden Schauspieler Franz-Xaver Franz und Martin Mutschler das erste Mal die Szene aus Fassbinders Film nachspielen, wird das Spiel auf der Bühne aufgebrochen. Was dann folgt, ist eine Mischung aus improvisierten Reden, politischem Kabarett, Erklärungen und historischer Einordnung von Fassbinders Werken und ein immer wiederkehrendes collagenhaftes Nachspielen von Szenen aus Fassbinders Film, das aber schnell wieder in performative Momente ausbricht und das gesamte Geschehen bis dato hinterfragt. Zwischen den einzelnen Szenen wechseln beide Schauspieler mehrmals die aussagekräftigen und durchdachten Kostüme von Wiebke Strombeck, teils wortlos, teils begleitet von Martin Mutschlers Musical Momenten, in denen er die Nähe zum Publikum sucht, die Zuschauertribüne von einem Lichtspot gefolgt, hinaufgeht und von seinen Sehnsüchten singt. Die anfänglichen Rollen, Martin Mutschler als Fassbinders damaliger Freund und Franz-Xaver Franz als Rainer Werner Fassbinder, werden aufgebrochen. Manchmal sprechen sich beide bei ihren echten Namen an, ab und zu werden die anfänglichen Charaktere getauscht.

Die stärksten Momente für mich sind die scheinbar frei assoziativen und gut erzählten Vorträge von Franz-Xaver Franz, in denen Fassbinders Werke und der Deutsche Herbst im aktuellen (kultur-)politische Kontext erläutert wird. Ein Seitenkick auf das Körber Studio Junge Regie, das als Plattform für diese Aufführung dient, darf genauso wenig fehlen, wie eine Anmerkung auf die Umfragewerte der deutschen (Groß-)Parteien und Sexismus von Lehrenden an Schauspielschulen im deutschsprachigen Raum. In Bezug auf das Körber-Studio wird der Beitritt von Kurt A. Körber, der deutscher Unternehmer und Gründer der Körber-Stiftung war,  zur NSDAP erwähnt und mit den Aussagen über ihn im Katalog der Körber-Stiftung kritisch hinterfragt. Franz-Xaver Franz zitiert von dort, dass obwohl Kurt Adolf Körber 1940 der NSDAP beitrat, um die politische Macht des Unrechtsregimes für seinen persönlichen Profit nutzen zu können; So war er zwar selbst kein Nazi, wusste aber um die Verbrechen der nationalsozialistischen Ideologie […]. „Er war ein Kollaborateur, ein Opportunist – hätte er in der Sowjetunion gelebt wäre er vermutlich den Bolschewisten beigetreten…“

„Leck mir die Wunden“ ist ein Stück, das hinterfragt, kritisiert und unterhält. Es streut kein Salz in die Wunden, aber es klebt auch keine Pflaster drauf. Viel mehr inspiriert es auf eine kluge Art. Es reflektiert und kreiert anhaltende Bilder. So wie die Endszene, in denen beide Schauspieler auf dem Bühnenboden liegen und von weißen, unbedruckten Din A4 Papieren, die zu Boden gleiten, begraben werden.

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