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„leck mir die Wunden“ liebe Gesellschaft

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Koerber Studio Junge Regie 2019: leck mir die wunden; Regie Meera Theunert, Theaterakademie Hamburg, Hochschule für Musik und Theater Do 13. Juni 21 Uhr Thalia Gaußstraße, Studiobühne Foto: Krafft Angerer

„Meine Wohnung – Meine Partei – Meine App – Mein WLAN – Mein Rainer – Mein Werner“

Mein Fassbinder. 

Ich bin Theresa, nahezu 20 und studier(t)e Mathematik in Berlin. Mit dem Ende meines Selbstversuches Regie zu führen wechselte ich den Wohnsitz und den Studiengang, zog zu einer Regiestudentin und studiere bald etwas nicht ganz so trockenes. Also auf ein Zweites mit etwas weiterem Weg und mehr in den Massen – vierte Reihe, siebter Stuhl von links.

Ja mein Fassbinder, ich kann gar nicht in Worte fassen, mit welcher Erwartung ich in die Vorstellung von „leck mir die Wunden“ reingegangen bin. Den komischen Faible für Fassbinder habe ich, seit ich mit meiner ersten großen Liebe nachts um 23:45 in einem Berliner Programmkino „Kamikaze 1989“ gesehen habe. Obwohl ich wusste, dass Fassbinder selber kein Werk mit dem Titel „leck mir die Wunden“ hatte, war das die einzige Information mit der ich rein ging. Mein Wunsch Fassbinder zu sehen wurde zwar nicht inhaltlich gestillt, aber durch den Inhalt gestillt.

Ich setze mich und während ich mir die seltsam verdrehte Ästhetik eines Anfangsbildes angucke, höre ich leise per Lautsprecher einen Fassbinderdialog. Das Licht ist noch beim Publikum aber ich erkenne einige Pappaufsteller, welche das Inventar der Wohnung darstellen. Ich erkenne sicherlich nicht alle, aber das ist auch in Ordnung so, denn mein Blick, richtet sich auf den eher Leicht bekleideten Mann welcher, mit seinen roten Socken und dem Handtuch um die Hüften, mir den Rücken zuwendet. Außerhalb der „Einrichtung“ stolziert ein vollbekleideter Mann, Schlagstock schwingend, auf und ab.

Es folgen ein paar einleitende Worte von Xaver (Franz-Xaver Franz) mit Kommentaren zur Korrektheit von Martin (Martin Mutschler). Es wirkt wie ein Kabarett, mit Charme und viel Wortwitz – „Künstler interessieren sich für Terrorismus, aber nicht andersrum.“  

95% der Deutschen passen auf ein DIN A4 Blatt, doch was ist mit den restlichen 5%?

Gefolgt von der Anfangsszene des Filmes „Deutschland im Herbst“ auf der das Stück aufbaut. Eine Szene die sich immer und immer wiederholt – nur anders. Es gibt immer wieder einen Grund, weshalb einer der Beiden aus der geMEINsamEn Wohnung rausgeschmissen wird.

Ehrliche Kritik! Ehrliche Kritik inszeniert von Meera Theunert. Kritik an der SPD – „meiner Partei“. Kritik an Lieferservices „ausgebeuteter Student oder ausgebeutetes Herz“ – „meiner App“. Kritik an Sexismus an (Hoch)schulen, wegschauende Menschen, Konsumgesellschaft, Rassismus. Unterbrochen von immer wiederkehrenden Realitätsfluchtgesängen. Martin tritt ins Publikum hinein, schaut uns an und singt: „Macht Kaputt was euch Kaputt macht!“

Die beiden Schauspieler waren so in dem Stück drin, dass ich mich zwischenzeitlich fragte, wer gerade vor mir steht – Franz Xaver Franz als Liselotte Eder oder als Rainer Werner Fassbinder wie er heute wäre, oder doch als Franz Xaver Franz selbst. Ebenso wie bei Martin Mutschler, den ich, durch seinen Gesang und all die Hoffnung in seinen Tönen, als Träumer sehe. Ob er das wirklich ist? Wahrscheinlich nicht. Die Überlagerung aus Figur und Privat-Person macht es mir, als Außenstehende noch schwerer die Gedankengänge klar zu sortieren.

Und während mindestens 95 Leute des Publikums lachen musste, da sie Insiderwissen hatten, saß ich nur da und fragte mich, wie man über Sexismus und den durch Medien verbreiteten Idealmaßen eines Körpers in der Form eines Stockes, nur lachen kann.

Das Publikum hat gelacht, eine so warme Atmosphäre und doch wieder Kritik, wichtig aktuell und gravierend, dass ich mir wünschen würde jeder könnte leck mir die Wunden sehen – es ist vor allem Kritik an all denen, die immer sagen was falsch ist und nichts tun, weil sie etwas zu verlieren haben. Ihren Job! Vielen Dank.

Doch was passiert mit den restlichen 5%?

Als leere A4 Blätter fallen sie massenweise und unzählbar, da ich es anfangs wirklich noch probiert habe, erst auf Martin und dann auch auf Xaver.

Voller Verwirrung verlies ich den Saal, mit der Angst nichts verstanden zu habe und doch, durch eigene Anforderungen, eine Kritik schreiben zu können, die ehrlich ist. Je mehr Zeit ich hatte, desto klarer wurde mir, was ich da gerade gesehen habe. Es war so unbeschreiblich toll, dass es traurig ist, nicht die Länge der leeren A4 Blätter zu haben, um mehr darüber zu schreiben. Kleine aber so feine Details, oder unglaublich witzige Szenen nennen zu können.

Zurück zum Anfang…inhaltlich nicht gestillt aber durch den Inhalt gestillt? Sehr schwer zu erklären, denn es war so wenig Fassbinder und doch so viel. Wie die Faust aufs Auge – Fassbinder heute. Am Ende bleibt mir eine Verbundenheit zu Meera Theunert, die im Publikumsgespräch sagte, dass der ganze Nachrichtenkonsum negativ sei.

Bitte liebe Zeit und alle anderen Zeitungen(, auch ein Apell an die ARD (Mediathek) und alle anderen Sender) berichtet doch mal etwas Positives. Ihr könntet mit dieser einzigartigen Inszenierung anfangen.

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