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„Verlust“ – Meine Abrechnung (bis heute)

Koerber Studio Junge Regfie 2019 Foto Krafft Angerer

„Jakob, goldgelb, Familie, Uckermark, vermisst, 19,90€“

Anders als bei den meisten Stücken des Festivals handelt es sich bei „Verlust“ von Benjamin Junghans, (Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, Ludwigsburg) nicht um eine Abschlussinszenierung sondern um eine Präsentation seiner Arbeit aus seinem Hochschul-Modul „Biographisches Projekt“ . Benjamin Junghans entschied sich für eine Autobiographische Auseinandersetzung und war hierfür Regisseur, Autor und Darsteller seines Stücks.

Da kamen bei mir schon die ersten Befürchtungen auf: wann immer ich im Programmheft lese, dass jemand seine schlimmen, persönlichen Erfahrungen auf der Bühne vor einem Publikum ausstellt, sehe ich vor meinem inneren Auge mitleiderregenden Seelenstriptease und peinlichen Kitsch. Besonders kritisch, wenn solche Privatismen dann in einem Wettbewerb antreten. Bei einem Wettbewerb wird knallhart bewertet und ist das im Bezug auf etwas, wie die persönliche Verarbeitung eines Todesfalls nicht übergriffig und pietätlos?

Und genau das, womit ich hadere, macht Benjamin Junghans zum Konzept: In einem weißen Hemd und mit spießigen Hosenträgern setzt er sich vor dem Publikum auf einen Haufen Blumenerde, die wie ein Grab aufgeworfen ist, nimmt sich eine handelsübliche Kasse zur Hand und rechnet akribisch mit all seinen Verlusten ab.

Aber nochmal einen Schritt zurück, was ist da genau passiert?

Von meinem Platz in der hintersten Reihe ganz mittig sehe ich auf einen kleinen schwarzen Hocker vorne links auf dem ein Gerät steht, dass sich mir später noch als Diaprojektor erschließen wird. Links hinten sind ca. 12 Säcke mit Blumenerde gestapelt und darauf eine Teekanne, Teedose, ein Wasserkocher und zwei Tassen. Am Präsentesten aber ist der große Haufen Erde.

Melancholische Klaviermusik vom Band erfüllt den Raum, dazu hin und wieder Autogeräusche und eine Google-Stimme die das Publikum begrüßt. Dann betritt ein junger Mann, komplett in weiß gekleidet die Bühne und kocht sich erst mal einen Tee „Mit einer Thermoskanne kann man den Moment bis zum Erkalten aufschieben, jedoch niemals verhindern.“ Die Metapher ist eindeutig. Dann setzt er sich mit einer Kasse in den Erdhaufen und eröffnet den nächsten Vorgang mit „Abrechung bis heute“ woraufhin er alle Gegenstände, Kleidungsstücke, Menschen, alles Wissen, sowie Zustände und Erinnerungen die er verloren hat aufzählt, kategorisiert und ihnen einen Wert in Euro zuordnet. Dazu läuft parallel eine Diashow allerdings nur die die Negative was die Motive der Bilder für mich schwer erkennbar macht, ich erahne so etwas wie Urlaubsbilder. Die Aufzählung im Grabhügel wechselt sich ab mit Szenischen Momenten im Raum: Er holt sich einen Sack Blumenerde, legt ihn an die Bühnenkante, stellt sich darauf und spricht einen Text „In jedem Verlust steckt auch eine Chance […]“ dann holt er sich einen zweiten Sack, legt ihn auf den ersten spricht denselben Text schneller und etwas länger, holt sich einen dritten Sack, stapelt ihn auf die anderen beiden, spricht denselben Text noch schneller und länger und mittlerweile auch etwas außer Atem. Er wiederholt diesen Vorgang bis er sich auf dem instabilen Stapel nicht mehr halten kann und kehrt zurück zu seiner Abrechnung:

Kleidungsstücke und Gegenstände die im Taxi liegen gelassen, in einer Umzugskiste vergessen oder gestohlen wurden. Hin und wieder gibt es eine Anekdote über den Verlust, z.B. warum die Flip Flops, oblgeich sie nur 2 Euro gekostet haben, so wertvoll waren oder wie die Großmutter ihm nach dem Verlust seines geliebten Teddys Jakob, vom Verlust ihrer Puppe im Luftangriff auf Dresden erzählte. Ein goldgelbes Familienmitglied, vertanzte Schuhe, bunte Erinnerungen, verlorenes Wissen aus dem Bioleistungskurs im Wert von 400 Euro. Die Reinfolge wirkt dabei überwiegend willkürlich, ist weder alphabetisch noch chronologisch nur hin und wieder assoziativ, wenn z.B. der Verlust des Großvaters (Wert: 1910,39 Euro) dazu führt, die geplante Reise nach England nicht antreten zu können, wodurch die Tickets verfallen. In dieser Liste steckt etwas wahnsinnig Poetisches und in der detektivisch distanzierten Aufzählung der Ausdruck eines Gefühls das im Grunde unausdrückbar ist.

Im nächsten Szenischen Moment erzählt er von einer Beerdigung, spielt das Lied, dass damals gespielt wurde auf einer Melodica und läd das Publikum ein mitzusingen. Dieser Einladung kommt allerdings niemand nach. (Ich vor allem deswegen nicht, weil sich in mir schon bei den ersten beiden Worten „Komm Herr“ starke Aversionen regen.) Es ist aber auch für die Szene völlig irrelevant ob jemand mitsingt, denn der Darsteller macht hier nichts für das Publikum, sondern für sich selbst. Dabei gewährt er uns tiefe Einblicke in seine Biographie und verhandelt seine Verluste ehrlich und humorvoll und doch bleibt die Stimmung für mich bedrückend und etwas unangenehm.

Zu mir: Ich bin 26, studiere Regie an der Theaterakademie, zuvor habe ich als Choreographin und Tanzpädagogin gearbeitet, nebenbei mach ich Poetry Slam. Bevor ich an diesem Tag zur Aufführung ging habe ich verschlafen, dann geprobt und auf dem Weg noch schnell was gegessen und den letzten Blogeintrag in der S-Bahn gelesen. Draußen schien die Sonne, war mir aber zu heiß.

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